1. Das Projekt „Wir im Wald“ und seine Fallregionen

Dieses Video ist einer von vier Impulsen unserer Reihe „Wald, Mensch, Perspektiven – Konflikte verstehen, Lösungen gestalten“.
Auf Grundlage unserer Forschung wird deutlich, wie unterschiedliche Interessen im Wald aufeinandertreffen und wie sich solche Konflikte gemeinsam und nachhaltig bearbeiten lassen. In den vier Videoimpulsen der Reihe stellen wir verschiedene deliberative Methoden vor, die wir in unseren Fallregionen erprobt haben. Die weiteren drei Videos der Reihe finden Sie in den Kapiteln 3 bis 5.
Was kann man tun, um erholungsbasierte Nutzungskonflikte im Wald zu entschärfen? In vier Fallregionen haben wir in unserem Projekt untersucht, was den jeweiligen Konflikt ausmacht, und kommunikative Strategien getestet, um einer Lösung näherzukommen. In diesem Handlungsleitfaden berichten wir von unseren Erfahrungen und setzen sie gleich in praktische Empfehlungen um. Wir beantworten Ihnen also die Frage, was Sie tun können, um selbst Nutzungskonflikte zu entschärfen. 
Zentral ist für uns ein besonderes Dialogformat, das „Deliberation“ genannt wird. In diesem Format tauschen sich die Konfliktbeteiligten auf Augenhöhe aus. Die Voraussetzungen dazu waren in unseren Fallregionen gut, denn die Akteurinnen und Akteure vor Ort waren schon miteinander im Gespräch, aber manche Konflikte sind hartnäckig und nur schwer zu lösen. Gemeinsam haben wir überlegt, welche ungeklärten Fragen wir erforschen und welche Art der Unterstützung wir ausprobieren sollten.
In diesem Einleitungskapitel vertiefen wir den Videoimpuls. Wir geben zunächst einen kurzen Ausblick auf den gesamten Handlungsleitfaden (Abschnitt 1.1), indem wir die wichtigsten Ergebnisse des Projekts zusammenfassen. Im Abschnitt 1.2 erläutern wir dann, was Deliberation bedeutet und für welche Konflikte sie sich eignet. Anschließend stellen wir die Menschen und Institutionen vor, mit denen wir zusammengearbeitet haben und an die sich dieser Handlungsleitfaden richtet. Und Sie lernen die vier Fallregionen und ihre jeweiligen Nutzungskonflikte kennen, mit denen wir uns beschäftigt haben (Abschnitt 1.3).

1.1 Die wichtigsten Punkte zusammengefasst

Im Projekt „Wir im Wald“ haben wir vier Konflikte untersucht, an denen Erholungssuchende im Wald beteiligt sind: Mal war es ein Konflikt zwischen Erholungssuchenden, die sich im Wald in die Quere kommen, mal haben die Erholungssuchende andere Akteure wie das Forstamt kritisiert und mal standen sie selbst in der Kritik, weil sie die Umwelt gefährden. In allen Fällen waren die Konfliktbeteiligten bereits mehr oder weniger intensiv im Austausch miteinander, und wir haben untersucht, wie wir diesen Dialog fördern können. Dazu haben wir mit Studierenden einer Medienhochschule kommunikative Maßnahmen umgesetzt: von Kurzvideos auf Social Media bis zu gemeinsamen Spaziergängen durch den Wald. Und wir haben die Konflikte mithilfe von Umfragen und der Analyse von Geländedaten erforscht, um sie besser zu verstehen. Die kommunikativen Maßnahmen stellen wir in den Kapiteln 3 bis 5 vor, und die Forschungsarbeiten in den Kapiteln 6 und 7. 
Unser Ziel war jeweils, die Gräben zwischen den Konfliktparteien zu überbrücken, um die Chance auf eine Einigung zu erhöhen. Dazu bieten sich je nach Konfliktlage unterschiedliche Strategien an. In manchen Fällen muss man zum Beispiel Verständnis für die Gegenseite wecken, in anderen Fällen kann man herausarbeiten, dass es trotz aller Differenzen auch Gemeinsamkeiten gibt, auf die man bauen kann. Am Ende unseres Projekts sind die Konflikte zwar nicht gelöst, doch die Kooperationspartner vor Ort bestätigen uns, dass es vorangeht: Sie arbeiten gemeinsam an Lösungen und sind insgesamt zuversichtlich. 
„Für mich hat sich gezeigt, dass Kommunikation einfach der Schlüssel für alles ist. Wir können die Probleme nur gemeinsam lösen.“
Sarah Louisa Schmidt
Revierleiterin Großbeeren | LFB
Unsere Empfehlungen richten sich an alle, die sich ehrenamtlich oder beruflich zuständig fühlen, wenn Erholungssuchende im Wald in Konflikte geraten. Wenn das auf Sie zutrifft, weil Sie zum Beispiel in der Forstwirtschaft, im Tourismus, in einem Sport- oder einem Naturschutzverband arbeiten oder einen Wald besitzen, möchten wir Ihnen einige Ratschläge und Ideen an die Hand geben, um aktiv zu werden oder Ihr Engagement auszubauen. Wir hoffen, dass Sie sich von der einen oder anderen Anregung in den Kapiteln 3 bis 7 inspirieren lassen. In den Kapiteln 2 und 8, die wir zu einem späteren Zeitpunkt veröffentlichen, werden wir mit wissenschaftlicher Präzision erläutern, woran man erkennt, welche Art der Unterstützung ein Dialog gerade benötigt.
Gemeinsam an Lösungen zu arbeiten, ist oft anstrengend und langsam, aber am Ende kann eine tragfähige Einigung stehen. Wir glauben, dass dieser ergebnisoffene und von Respekt und Rationalität geprägte Dialog in vielen Fällen ein besseres Ergebnis erzielt, als die eigenen Interessen auf anderen Wegen durchzusetzen. Wir laden Sie herzlich ein, es einmal auszuprobieren! Sie dürfen die Kapitel in beliebiger Reihenfolge lesen – dort, wo es sinnvoll ist, verweisen wir Sie auf ergänzende Informationen aus anderen Kapiteln.

1.2 Was ist Deliberation?

Mit dem Fachbegriff „Deliberation“ wird ein Austausch zwischen Konfliktparteien bezeichnet, in dem jede Partei ihre Ansichten und Einschätzungen offenlegt und begründet – und dann auf die Ansichten und Einschätzungen der Gegenseite reagiert. Für diesen Austausch nimmt man sich Zeit, man lässt sich gegenseitig ausreden und versucht, einander zu verstehen. Das Ziel ist, eine Lösung für den Konflikt zu finden, der alle Konfliktparteien zustimmen – und die dann von allen mitgetragen wird. Mit anderen Worten: man versucht, gemeinsam ein Problem zu lösen, und überwindet dabei Meinungsverschiedenheiten, bis man sich auf einen Kompromiss einigt. Dieses Verfahren hat gute Aussichten auf Erfolg, denn die Diskussionskultur ist oft besser, als man befürchtet. Und wenn man die Ansichten der anderen Konfliktparteien kennenlernt, kann man Lösungen vorschlagen, die auch aus deren Perspektiven funktionieren.
Damit lässt sich die Deliberation von anderen Dialogformaten abgrenzen: Wenn Menschen zum Beispiel ohne Genehmigung mit dem Auto in den Wald fahren oder nach dem Picknick ihren Müll liegen lassen, dann muss man mit ihnen nicht über Kompromisse diskutieren. Egal ob man einen strengen Ton wählt oder zu einer freundlichen Ermahnung ansetzt – das Durchsetzen von Regeln ist keine Deliberation. Eine Deliberation könnte sich aber lohnen, wenn die zuständigen Behörden und Verbände uneins über die beste Durchsetzungsstrategie sind. Dann könnten sie über mögliche Lösungen sprechen und versuchen, sich auf eine Strategie zu einigen, bei der alle am selben Strang ziehen.
Die Deliberation ist nicht dazu da, seine Interessen gegenüber anderen Konfliktparteien durchzusetzen, vielmehr müssen alle Teilnehmenden offen sein für neue Vorschläge. Und sie ist nicht dazu da, Streitigkeiten zwischen Konfliktparteien beizulegen. Vielmehr setzt die Deliberation voraus, dass alle Beteiligten bereit sind, miteinander zu reden. Die Deliberation ist zudem offen für neue Konfliktparteien, die an der Lösung mitarbeiten wollen.
Wirklich offen in den Austausch zu gehen und nur darauf schauen, dass das Problem gemeinsam gelöst wird, ist nicht selbstverständlich – und man muss eventuell erst einmal das nötige Vertrauen aufbauen. Wenn es aber klappt, sind Formulierungen dieser Art typisch für die Deliberation: „Ich gebe Dir recht für den ersten Teil Deiner Behauptung, aber mit dem zweiten Teil habe ich Schwierigkeiten, weil …“ Die Diskussion wird mit der Zeit differenzierter und ursprünglich als klar empfundene Positionen lösen sich manchmal auf.
Zwei wichtige Bedingungen erfordern üblicherweise besondere Vorbereitung: Gelingt es, alle Konfliktparteien zur Teilnahme zu gewinnen? Und gibt es einen Konsens darüber, welches Problem zu lösen ist? Nehmen wir an, es gibt immer wieder Berichte darüber, dass Wandernde und Radfahrende im Wald aneinandergeraten. Man kann nun die Wander- und Radfahrverbände zum Austausch einladen, aber man sollte recherchieren, ob auch Ansichten vertreten werden, die sich nicht mit den Positionen der Verbände decken. Es könnte zum Beispiel sein, dass der Konflikt von Personen ausgeht, die gar nicht in einem Verband organisiert sein wollen. Zudem sollte man sich vorher einen Überblick verschaffen, wie der Konflikt eingeschätzt wird: Während es den einen um ein faires Miteinander geht, könnte es den anderen vielleicht darum gehen, das Radfahrverbot auf bestimmten Wegen durchzusetzen. Und dann kann es noch Beteiligte geben, die den Konflikt für aufgebauscht halten und finden, dass gar keine neue Lösung benötigt wird. Für die Deliberation benötigt man ein realistisches Diskussionsziel, auf das sich alle verständigen können.
Checkliste: Welche Bedingungen müssen erfüllt sein, damit die Deliberation funktioniert?
➝ Zivilität: Im Dialog sollten Respekt und Anstand gewahrt werden. Man kann Regeln aufstellen (zum Beispiel zum gegenseitigen Ausredenlassen) und eine neutrale Moderation berufen, die darauf achtet, dass die Regeln eingehalten werden. Zur Zivilität gehört natürlich auch, dass man sich entschuldigt, falls es einmal zu hitzig werden sollte.
➝ Inklusivität: Alle Betroffenen sollten dieselben Möglichkeiten haben, an der Debatte teilzunehmen. Das bedeutet einerseits, dass alle Konfliktparteien eingeladen werden, und andererseits, dass sie in der Debatte angemessen zu Wort kommen. Eine neutrale Moderation kann helfen, dass auch die stilleren Stimmen gehört werden.
➝ Rationalität: Emotionen müssen nicht unterdrückt werden, aber in der Deliberation kommt es vor allem auf die sachorientierten Argumente an. Alle Konfliktparteien sollten bereit sein, ihre Sichtweisen zu erläutern und zu begründen sowie auf Fragen der Gegenseite zu antworten. Sie sollten auch eine gewisse Offenheit für andersartige Argumentationsstile mitbringen.
 
➝ Interaktivität: Die Deliberation lebt vom Austausch der Argumente, und sie gewinnt an Tiefe, wenn man einander zuhört und nicht nur Einwände erwidert – wenn man also versucht, die Gegenseite zu verstehen. Dazu gehört, dass man die Sichtweisen der anderen Konfliktbeteiligten zumindest in Teilen als berechtigt anerkennt.
➝ Gemeinwohlorientierung: Die Diskutierenden brauchen ein Ziel, auf das sie gemeinsam hinarbeiten. In den Beispielkonflikten unseres Projekts ging es stets darum, dass sich Erholungssuchende im Wald erholen können. Die Argumente in einer Deliberation sollten sich auf dieses (oder ein anderes) Gemeinwohl beziehen.
➝ Konstruktivität: Um in der Deliberation Fortschritte zu erzielen, sollten die Teilnehmenden Vorschläge machen und die Vorschläge der anderen ergebnisoffen prüfen. Sie sollten keine strategischen Hintergedanken im Kopf haben, sondern auf eine Einigung hinarbeiten.

1.3 Vorstellung des Projekts „Wir im Wald“

Das Projekt „Wir im Wald“ trägt offiziell den Titel „Deliberative Kommunikation für erholungsbasierte Nutzungskonflikte im Wald“. Ziel war es herauszufinden, wo die Probleme von erholungsbasierten Konflikten im Wald liegen und welche deliberativen Strategien helfen, um diese zu entschärfen. Hierzu war das Projekt in vier Fallregionen in ganz Deutschland unterwegs und hat verschiedene Nutzungskonflikte untersucht: 
In Freiburg im Breisgau ging es um Konflikte zwischen Erholungssuchenden am Beispiel Radfahren und Wandern. 
Am Rangsdorfer See im Landkreis Teltow-Fläming (Brandenburg) ging es um Konflikte zwischen Erholungssuchenden und der Forstwirtschaft, am Beispiel von Regelmissachtung der Erholungssuchenden durch Müll und unbefugtem Befahren des Waldes. 
Am Rothaarsteig im Hochsauerland untersuchten wir Konflikte zwischen Erholungssuchenden und der Waldbewirtschaftung, darunter der Einfluss von Kahlschlägen auf den Erholungswert des Waldes. 
Schließlich untersuchten wir am Hirschberg im Landkreis Miesbach (Bayern) Konflikte zwischen Erholungssuchenden und dem Naturschutz – das konkrete Beispiel waren die Auswirkungen von Wintersport auf das Birkwild.
Die Auswahl der vier Fallregionen basierte auf einer bundesweiten Online-Umfrage, die sich an Interessensgruppen aus den Bereichen Outdoor/Freizeit, Naturschutz, Tourismus und Forstwirtschaft/Jagd sowie an Erholungssuchende richtete. Mit der Umfrage konnten wir die Erfahrung von 2.908 Personen zu häufig vorkommenden und typischen Erholungskonflikten im Wald einholen. Die Ergebnisse haben wir mit einem Gremium von rund 15 Expertinnen und Experten diskutiert und in einem Workshop vier besonders relevante Konfliktthemen ausgewählt. Das Gremium hat uns zudem mögliche Fallregionen empfohlen, die wir angesprochen und gefragt haben, ob sie mit uns zusammenarbeiten möchten. Bei der finalen Auswahl haben wir zudem berücksichtigt, dass sich die Fallregionen über ganz Deutschland verteilen (siehe Karte rechts).
Übersicht über unsere vier Fallregionen in Deutschland. (Quelle: Wir im Wald)
Der Projektauftakt von „Wir im Wald“: Das Team aus HFR, Bodensee-Stiftung und HdM. (Foto: Wir im Wald)
Waldspaziergang im Sauerland: Mitglieder des Projektteams mit Studierenden der HFR und HdM. (Foto: Wir im Wald)
In jeder Fallregion haben wir vor Ort Umfragen und Interviews durchgeführt, die mediale Berichterstattung über den jeweiligen Konflikt analysiert und geografische Karten erstellt (Kapitel 6 und 7). Dieser Methodenmix ermöglicht ein umfassendes Verständnis der komplexen Rahmenbedingungen, die soziale Konflikte mit sich bringen, was wiederum die Voraussetzung ist für die Auswahl geeigneter Kommunikationsstrategien zur Entschärfung des Konflikts. Die verschiedenen kommunikativen Formate stellen wir in den Kapiteln 3 bis 5 vor.
Den theoretischen Rahmen des Projektes bildet das Analyseraster für Gemeingüter der Nobelpreisträgerin Elinor Ostrom, das „Institutional Analysis and Development Framework“ oder kurz „IAD-Frame“ genannt wird. Der IAD-Frame wurde dafür entwickelt, institutionelle Arrangements für Gemeingüter (auch Allmenden genannt) vergleichend zu analysieren. Wald ist ein klassisches Beispiel für ein Gemeingut. Denn Wald ist dadurch gekennzeichnet, dass niemand von seiner Nutzung ausgeschlossen werden kann (z.B. aufgrund des freien Betretungsrechts), aber eine Rivalität in der Nutzung besteht. Zum Beispiel wird es schwieriger, sich im Wald zu erholen, wenn zu viele Menschen dieses Ziel gleichzeitig verfolgen. Die Anwendung des IAD-Frames erlaubt uns, verschiedene Konflikttypen voneinander zu unterscheiden und einen ganzheitlichen Blick auf ihre jeweilige Entstehung zu werfen. Das Projekt stellt zudem kommunikative Prozesse in den Mittelpunkt der Analyse von Konflikten und deren Lösung.
Im Projekt arbeiten drei Einrichtungen zusammen: die Hochschule für Forstwirtschaft Rottenburg (HFR), die Hochschule der Medien Stuttgart (HdM) sowie die Bodensee-Stiftung aus Radolfzell. Die Partner bringen Kompetenzen im Bereich der Forstwirtschaft, des Tourismus und der Naherholung, des Journalismus und der crossmedialen Kommunikation ein. Das Projekt ist damit transdisziplinär und verknüpft nicht nur unterschiedliche Fachbereiche, sondern wirkt auch in die Praxis hinein. Die beteiligten Forschenden, Studierenden und die Partnerinnen und Partner waren in einen stetigen Prozess des „miteinander Lernens“ eingebunden. Das produzierte Wissen aus dem Projekt wurde über die gesamte Projektlaufzeit hinweg der Öffentlichkeit zugänglich gemacht – über Newsletter, Social Media oder Vorträge.
Genauere Beschreibungen der vier Fallregionen und der wissenschaftlichen Publikationen der Projektpartner finden Sie auf der Projekt-Homepage: www.wir-im-wald.de
Alle kommunikativen Aktivitäten mit Unterstützung von Studierenden der HdM sind über die Website www.wir-im-wald-magazin.de zu erreichen.
 
„Noch nie waren so viele Menschen im Wald unterwegs – und noch nie waren ihre Aktivitäten so unterschiedlich. Genau deshalb braucht es einen differenzierten Blick auf Konflikte, damit wir passgenaue Lösungen entwickeln können.”
Prof. Dr. Monika Bachinger
Projektleitung | Wir im Wald