1.2 Was ist Deliberation?
Mit dem Fachbegriff „Deliberation“ wird ein Austausch zwischen Konfliktparteien bezeichnet, in dem jede Partei ihre Ansichten und Einschätzungen offenlegt und begründet – und dann auf die Ansichten und Einschätzungen der Gegenseite reagiert. Für diesen Austausch nimmt man sich Zeit, man lässt sich gegenseitig ausreden und versucht, einander zu verstehen. Das Ziel ist, eine Lösung für den Konflikt zu finden, der alle Konfliktparteien zustimmen – und die dann von allen mitgetragen wird. Mit anderen Worten: man versucht, gemeinsam ein Problem zu lösen, und überwindet dabei Meinungsverschiedenheiten, bis man sich auf einen Kompromiss einigt. Dieses Verfahren hat gute Aussichten auf Erfolg, denn die Diskussionskultur ist oft besser, als man befürchtet. Und wenn man die Ansichten der anderen Konfliktparteien kennenlernt, kann man Lösungen vorschlagen, die auch aus deren Perspektiven funktionieren.
Damit lässt sich die Deliberation von anderen Dialogformaten abgrenzen: Wenn Menschen zum Beispiel ohne Genehmigung mit dem Auto in den Wald fahren oder nach dem Picknick ihren Müll liegen lassen, dann muss man mit ihnen nicht über Kompromisse diskutieren. Egal ob man einen strengen Ton wählt oder zu einer freundlichen Ermahnung ansetzt – das Durchsetzen von Regeln ist keine Deliberation. Eine Deliberation könnte sich aber lohnen, wenn die zuständigen Behörden und Verbände uneins über die beste Durchsetzungsstrategie sind. Dann könnten sie über mögliche Lösungen sprechen und versuchen, sich auf eine Strategie zu einigen, bei der alle am selben Strang ziehen.
Die Deliberation ist nicht dazu da, seine Interessen gegenüber anderen Konfliktparteien durchzusetzen, vielmehr müssen alle Teilnehmenden offen sein für neue Vorschläge. Und sie ist nicht dazu da, Streitigkeiten zwischen Konfliktparteien beizulegen. Vielmehr setzt die Deliberation voraus, dass alle Beteiligten bereit sind, miteinander zu reden. Die Deliberation ist zudem offen für neue Konfliktparteien, die an der Lösung mitarbeiten wollen.
Wirklich offen in den Austausch zu gehen und nur darauf schauen, dass das Problem gemeinsam gelöst wird, ist nicht selbstverständlich – und man muss eventuell erst einmal das nötige Vertrauen aufbauen. Wenn es aber klappt, sind Formulierungen dieser Art typisch für die Deliberation: „Ich gebe Dir recht für den ersten Teil Deiner Behauptung, aber mit dem zweiten Teil habe ich Schwierigkeiten, weil …“ Die Diskussion wird mit der Zeit differenzierter und ursprünglich als klar empfundene Positionen lösen sich manchmal auf.
Zwei wichtige Bedingungen erfordern üblicherweise besondere Vorbereitung: Gelingt es, alle Konfliktparteien zur Teilnahme zu gewinnen? Und gibt es einen Konsens darüber, welches Problem zu lösen ist? Nehmen wir an, es gibt immer wieder Berichte darüber, dass Wandernde und Radfahrende im Wald aneinandergeraten. Man kann nun die Wander- und Radfahrverbände zum Austausch einladen, aber man sollte recherchieren, ob auch Ansichten vertreten werden, die sich nicht mit den Positionen der Verbände decken. Es könnte zum Beispiel sein, dass der Konflikt von Personen ausgeht, die gar nicht in einem Verband organisiert sein wollen. Zudem sollte man sich vorher einen Überblick verschaffen, wie der Konflikt eingeschätzt wird: Während es den einen um ein faires Miteinander geht, könnte es den anderen vielleicht darum gehen, das Radfahrverbot auf bestimmten Wegen durchzusetzen. Und dann kann es noch Beteiligte geben, die den Konflikt für aufgebauscht halten und finden, dass gar keine neue Lösung benötigt wird. Für die Deliberation benötigt man ein realistisches Diskussionsziel, auf das sich alle verständigen können.